Sommer 67: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 26. November 2021, 19:22 Uhr
Es ist Sommer. Er sieht sich inmitten einiger großer Mädchen. Die Mädchen spielen Gummitwist oder Himmel und Hölle auf der großen Sonnenterasse des Kinderheims. Bei beidem kann er nicht mitspielen. Aber er ist glücklich. Glücklich, dabei zu sein. Seine große Schwester ist eines der Mädchen. Es ist gut, wenn sie in seiner Nähe ist. Aber es ist auch gut, wenn sie nicht bei ihm sein kann. Sie kommt immer wieder.
In seiner Erinnerung ist es eine glückliche Zeit. Das Heim liegt idyllisch gelegen auf einer weitläufigen Rodung inmitten eines großen Waldes. Er erinnert sich nur an Sonnentage. Er erinnert sich an den Duft der vielen Blumen, die Geräusche des Sommers, die Grillen, die Vögel und das andauernde Lachen fröhlicher, spielender Kinder. In seiner Erinnerung gibt es keine Erwachsenen. Vermutlich führten die Ordensschwestern die Streifzüge durch den Wald, aber er lief nur den anderen Kindern nach. Da war eine Ordensschwester, die ihm nicht half, das Unterhemd richtig herum anzuziehen. Aber sie hatte kein Gesicht. Da waren nur die Gitterstäbe und das Meer von kleinen Bettchen. Da war der Haufen Kleider im Bett. Sie warteten geduldig, bis man sie richtig anzog. Und irgendwann war da wieder die Sonne, der Park und die große Schwester mit ihren Freundinnen. Wie kam er nur vom Kleiderstapel an die Sonne?
In seiner Erinnerung hat er nicht ein einziges Mal an die Schreie der Mutter gedacht, an den Schlag des Klavierstuhls, der beim Zusammenbruch auf den Resonanzboden traf wie auf einen übergroßen Gong. Später wird er sich jedes Mal an dieses Geräusch erinnern, wenn etwas an das Holz eines Klaviers schlägt, an diesen typischen Nachhall, wenn 60 Jahre später ein Jazzmusiker den Stuhl etwas fahrig gegen das Klavier schiebt. Und er erinnert sich dann auch an diesen Film, der sich wie in Zeitlupe vor ihm abspulte. Es sind diese Dinge, die sich auch nach 60 Jahren nicht ändern. Aber zwischen diesem Moment, diesem Knien unter dem Klavier neben der sich krümmenden Mutter und dem Spielen im Wald war keine Zeit. Es war einfach nur Sommer. Die Pläne der Mutter misslangen. Der Rettungsdienst wurde etwas zu schnell benachrichtigt. Der Magen wurde ausgepumpt. Irgendwann waren alle wieder zusammen. Die Wohnung war frisch gestrichen. Mutter hatte selbst gemachte Geschenke für alle vorbereitet. Den neuen Spielkorb hatte sie selbst geflochten.
Vater hatte die Geschichte anders erzählt: Er habe sich beim Abschied immer schreiend an Vater festgeklammert bis die Ordensschwestern dem Vater verbaten, ihn zu besuchen. Aber in seiner Erinnerung war kein Schreien. In seiner Erinnerung war nur Sommer. Vater hat ihm dann durch den Zaun hindurch beim Spielen zugesehen, wenn er auf Besuch war. Keiner der Freunde und Verwandten wollte alle drei Kinder nehmen. Vater wollte die Kinder nicht aufteilen. Vater hatte recht behalten. Es war ein großes Glück mit seiner großen Schwester und dem Bruder und den anderen Kindern. Er war glücklich mit dem Wald, der Sonne, den Grillen, den Blumen und Vögeln. Diese Freundschaften tragen über die Lebensspannen von Vater und Mutter hinaus.
Material
Am 14.05.2021 um 13:01 schrieb Wolfgang Thomas Lentner <wolfganglentner@web.de>: Hallo Evi - mal ganz was Anderes: Anbei ein Text aus einem "Lesebuch", an dem ich seit einiger Zeit schreibe. Ich habe für die genaue Einordnung der Zeit nochmal den Bericht gelesen, den Ruth für uns mal geschrieben hat. Da lässt sich unser Waisenhausaufenthalt auf die Zeit zwischen zwei Tagebucheinträgen eingrenzen, zwischen denen er liegt: Mai 66 - August 67. In meiner Erinnerung ist allerdings nur Sommer (das wäre demnach Sommer 67)! Stimmt das? Kennst Du den Zeitraum genauer? Hast Du eine Ahnung, wer Mam und mich gefunden hat?
Gesendet: Samstag, 15. Mai 2021 um 10:33 Uhr Von: "Eva Ihler" <eva.ihler@cablenet.de> An: "Wolfgang Thomas Lentner" <wolfganglentner@web.de> Betreff: Re: sommer 67 Guten Morgen Wolfgang Was du da schreibst, treibt mir die Tränen in die Augen. Wir waren nur 3-4 Monate im Waisenhaus und es war zum Ende des Schuljahres. Fredl war ja schon älter und hatte ein Einzelzimmer im Dachgeschoss, wie wir ihn beneidet haben. Es war mir aber verboten hinaufzugehen. Ich meine, du warst im Schlafsaal im EG rechts und ich konnte über das große Treppenhaus in den Schlafsaal der Mädchen im ersten Stock links gehen. Ich weiß noch, dass du viel geweint hast und nur eingeschlafen bist, wenn ich an deinem Bettchen saß. Ich hab die Zeit im Heim in guter Erinnerung. Es gab feste Regeln, es gab viele Kinder zum Spielen. Der große Vorplatz, das viele Grün war immer schön. Wir Drei hatten einen Sonderstatus, denn wir durften uns immer treffen. Fredl hat sich eher zurück gezogen, er war ja schon „groß“, und wir beide waren viel zusammen. Ich weiß genau, dass ich sehr traurig war, als wir wieder nach Hause mussten. Das Essen wurde in einem großen Speisesaal eingenommen. Es gab feste Plätze und ich durfte manchmal bei dir essen. Das Essen war nicht soo besonders, es gab öfter zum Mittagessen Nudeln mit Apfelmus, eine schreckliche Kombination! Beim ersten Mal dachte ich es ist Fleischsoße, hab viel auf den Teller bekommen und musste dann alles aufessen. Ich kann mich nicht an die Besuche von Dad erinnern, er war nicht oft da. Hat immer gesagt, er hätte soviel Arbeit. Aber an einem (Ich glaube) Sonntag sind wir mit ihm im Wald spazieren gegangen. Als er sich verabschiedete hast du schrecklich geweint. Wenn ich zum Garten Prentl fahre kommt manchmal die Erinnerung an den Schulweg. Wir gingen an dem Bach entlang und ein Junge ist mir mit einem toten Frosch nachgelaufen. Es war dieser Sommer, wo die Ministranten im Kaiser verunglückt sind. Später hat Mam immer gesagt, dass es ein Glück war, denn wir waren im Waisenhaus. Sonst wäre Fredl auch dabei gewesen. Gefunden hat euch Tante Heidl. Aber in meiner Erinnerung lag Mam im Bett. Du hast geschlafen. Als du aufgewacht bist und sie gesucht hast, standest du vor ihrem Bett und hast geweint. Dass sie vor dem Klavier zusammen gebrochen ist weiß ich nicht. Jetzt tauche ich wieder in die Vergangenheit ein - das tut mir nicht so gut. Denn nach dieser Zeit ging es mit der „Erpressung“ von Mam los. „Wenn ihr nicht brav seid, gehe ich ins Wasser!!“ Wie Frau Zippert unsere Nachbarin es getan hat. Sie lief aus der Wohnung und ist immer lange weggeblieben. Wir sind Ihr manchmal hinterher geschlichen, sollte wirklich was passieren. Wir können ja mal drüber reden, aber das muss passen. Bin selten in der Stimmung für eine Zeitreise. Liebe Grüße von deiner großen Schwester EVI
Aus Ruths Erinnerungen für mich ...
(letzter Eintrag Mai 66, sonst Einträge im Wochenrhythmus): Erstaunlich, wie Mam den Suizidversuch als "ein paar Wochen krank" darstellt, dann aber sagt, sie müsse "in der übrigen Familie rumfragen, was mit mir das letzte Jahr war", um über mich schreiben zu können.
Während der Zeit im Waisenhaus kommt Fredls "best friend", der Metzger Franzi bei einem Ministrantenausflug im Griesner Kar ums Leben. Fredl liegt einige Wochen krank im Bett.