Mathematik an einer Mädchenschule

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Eine Wortmeldung der Königsdisziplin - Ein Beitrag aus dem Jahresbericht 2004/2005

Emmy Noether, *23. März 1882 in Erlangen, +14. April 1935 in den USA


"Meine Mama hat gesagt, was sie in Mathe früher gelernt hat ('oder auch nicht', Anm. des Autors), hat sie nie wieder gebraucht. Zu was brauch ich dann dieses Mathe eigentlich?"

Solche oder ähnliche Fragen sind das tägliche Brot eines Mathepaukers an einer reinen Mädchenrealschule und sie spiegeln auch die allgemeine Einstellung wieder, die in vielen Elternhäusern vorherrscht und die von dort auch immer noch traditionell an Mädchen stärker weitergegeben wird als an die Söhne der Familien.

Abgesehen davon, dass solche vielleicht tröstenden und daher gut gemeinten Kommentare für uns als Pädagogen etwa eben so gelegen kommen wie ein ordentlicher Hagelsturm für den bemühten Landwirt, sind sie mit großer Wahrscheinlichkeit ehrlich und damit subjektiv richtig. Aber was sagen sie aus? Dass Mathematik im späteren Leben nicht gebraucht wird oder dass die Kommentatorin in ihrem Leben bisher nicht die Gelegenheit ergriffen hat, sie zu gebrauchen? Wer punktuell mit bestimmten Kompetenzen auf Kriegsfuss steht, versteht es bekanntlich blendend, in seinem Leben um alles einen großen Bogen zu machen, was diese Kompetenzen erfordern würde. Und dort, wo sich Handlungsfelder bieten würden, werden sie häufig nicht gesehen. Solche Kommentare sind also eher Ausdruck eines geringen eigenen Bewegungsspielraums im späteren Leben und dieser geringe Spielraum wird mit solchen Weisheiten sozusagen auf die nächste Generation vererbt.

Die Optikerin, die sich das Aufbaustudium nicht zutraute, die Sozialpädagogin, die nie eine verständliche Statistik über ihre Therapieerfolge machte, die OP-Schwester, die lieber den Tupfer hält als neue technische Geräte zu bedienen, weil sie die Bedienungsanleitungen scheut, die Unternehmerin, die ihre EXCEL-Tabellen und die Auswertungen der Geschäftszahlen außer Haus gibt, ... Sie alle machen die - subjektiv richtige - Erfahrung, dass sie Mathematik nie brauchten.

Sollten sie alle diese Erfahrung an ihre Töchter weitergeben?

Mir persönlich geht es aber nicht um die unbestrittene Wichtigkeit der Mathematik als grundlegende Kulturtechnik in verschiedenen, meist höheren Berufsfeldern. Dazu gibt es Berge von eingehenden Untersuchungen. Meine eigene Begeisterung für die Mathematik rührt von einer ganz anderen Erfahrung her:

Die Beschäftigung mit der Mathematik (und meist waren es Aufgabenstellungen, die gerade nicht anwendungsbezogen waren), die manchmal süchtigmachende Wirkung von "Aha"-Erlebnissen, die unbarmherzige Erfahrung, wann etwas logisch endgültig erledigt ist und wann noch ein Rest bohrender Irrtumsmöglichkeiten übrig bleibt, die Auseinandersetzung mit der Entwicklungsmöglichkeit seiner eigenen Erkenntnisfähigkeit, seiner eigenen Blickweite und Leichtigkeit im Denken - alles das fand tatsächlich so gut wie nie seine wortgleiche Anwendung in meinem späteren Leben, aber es veränderte nach und nach die Art, wie ich heute denke und handle. Der wesentliche Motor solcher Erfahrungen ist die Begegnung mit dem qualitativen Unterschied von "Zur-Kenntnis-Nehmen" und "Erkenntnis" und dieser Unterschied wird niemals erlernt, sondern ausschließlich durch eigene Hingabe erfahren.

In dieser Beziehung ist also die Beschäftigung mit der Mathematik eher Charakterbildung als berufspraktische Bildung. Und in dieser Hinsicht steht die Mathematik auch - neben den musischen Fächern und dem Religionsunterricht bzw. dem Ethikunterricht - an der Spitze des Fächerkanons, da auf ihrer Fahne die Lust auf das "Sich-Zueigen-Machen" eines der drei elementaren Bausteine des Menschseins geschrieben steht, nämlich das Wahre - neben dem Schönen und dem Guten. Menschen, bei denen der Funke der Mathematik übergesprungen ist, die die Lust an der eigenen Erkenntnis entdeckt haben, gehen mit einem anspruchsvolleren inneren Bild von Wahrheit durch die Welt. An ihm messen sie, was alles so an sie herangetragen wird. Es sind hartnäckige, spitzfindige und kreative Menschen mit einem starken Drang nach Unabhängigkeit und innerer Freiheit, wenig anfällig für Waschmittelwerbung, intellektuelle Voreiligkeit oder gar bewusste geistige Manipulation oder Indoktrination.

In einer Zukunft, in der Frauen nicht mehr nur Zuarbeiterinnen ihrer entscheidungstragenden Männer sein wollen und sollen und in der auch von uns allen als Staatsbürger in einer immer unübersichtlicheren Medienwelt mehr Eigenverantwortung abverlangt wird, sollten solche Bildungsziele - gerade an einer Mädchenschule -, namentlich einer UNESCO-Schule, einen hohen Stellenwert einnehmen.

P.S.: Das Bild zeigt Emmy Noether (1882-1935), eine der bedeutendsten Mathematikerinnen des 20. Jahrhunderts,

Wolfgang Lentner