Sommer 67

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>>> Wie die Zeit vergeht

Es ist Sommer. Er sieht sich inmitten einiger großer Mädchen. Die Mädchen spielen Gummitwist oder Himmel und Hölle auf der großen Sonnenterasse des Kinderheims. Bei beidem kann er nicht mitspielen. Aber er ist glücklich. Glücklich, dabei zu sein. Seine große Schwester ist eines der Mädchen. Es ist gut, wenn sie in seiner Nähe ist. Aber es ist auch gut, wenn sie nicht bei ihm sein kann. Sie kommt immer wieder.

In seiner Erinnerung ist es eine glückliche Zeit. Das Heim liegt idyllisch gelegen auf einer weitläufigen Rodung inmitten eines großen Waldes. Er erinnert sich nur an Sonnentage. Er erinnert sich an den Duft der vielen Blumen, die Geräusche des Sommers, die Grillen, die Vögel und das andauernde Lachen fröhlicher, spielender Kinder. In seiner Erinnerung gibt es keine Erwachsenen. Vermutlich führten die Ordensschwestern die Streifzüge durch den Wald, aber er lief nur den anderen Kindern nach. Da war eine Ordensschwester, die ihm nicht half, das Unterhemd richtig herum anzuziehen. Aber sie hatte kein Gesicht. Da waren nur die Gitterstäbe und das Meer von kleinen Bettchen. Da war der Haufen Kleider im Bett. Sie warteten geduldig, bis man sie richtig anzog. Und irgendwann war da wieder die Sonne, der Park und die große Schwester mit ihren Freundinnen. Wie kam er nur vom Kleiderstapel an die Sonne?

In seiner Erinnerung hat er nicht ein einziges Mal an die Schreie der Mutter gedacht, an den Schlag des Klavierstuhls, der beim Zusammenbruch auf den Resonanzboden traf wie auf einen übergroßen Gong. Später wird er sich jedes Mal an dieses Geräusch erinnern, wenn etwas an das Holz eines Klaviers schlägt, an diesen typischen Nachhall, wenn 60 Jahre später ein Jazzmusiker den Stuhl etwas fahrig gegen das Klavier schiebt. Und er erinnert sich dann auch an diesen Film, der sich wie in Zeitlupe vor ihm abspulte. Es sind diese Dinge, die sich auch nach 60 Jahren nicht ändern. Aber zwischen diesem Moment, diesem Knien unter dem Klavier neben der sich krümmenden Mutter und dem Spielen im Wald war keine Zeit. Es war einfach nur Sommer. Die Pläne der Mutter misslangen. Der Rettungsdienst wurde etwas zu schnell benachrichtigt. Der Magen wurde ausgepumpt. Irgendwann waren alle wieder zusammen. Die Wohnung war frisch gestrichen. Mutter hatte selbst gemachte Geschenke für alle vorbereitet. Den neuen Spielkorb hatte sie selbst geflochten.

Vater hatte die Geschichte anders erzählt: Er habe sich beim Abschied immer schreiend an Vater festgeklammert bis die Ordensschwestern dem Vater verbaten, ihn zu besuchen. Aber in seiner Erinnerung war kein Schreien. In seiner Erinnerung war nur Sommer. Vater hat ihm dann durch den Zaun hindurch beim Spielen zugesehen, wenn er auf Besuch war. Keiner der Freunde und Verwandten wollte alle drei Kinder nehmen. Vater wollte die Kinder nicht aufteilen. Vater hatte recht behalten. Es war ein großes Glück mit seiner großen Schwester und dem Bruder und den anderen Kindern. Er war glücklich mit dem Wald, der Sonne, den Grillen, den Blumen und Vögeln. Diese Freundschaften tragen über die Lebensspannen von Vater und Mutter hinaus.