Rudi Thurow

Aus MINT.lentner.net
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Thurow1.png
Thurow2.png
Thurow3.png
Thurow4.png
Thurow5.png
Thurow6.png
Thurow7.png

Rudi Thurow

Rudi Thurow, geboren 1937, verlor am Ende des 2. Weltkriegs zuerst seinen Vater, kurz darauf die Mutter. Seine drei Geschwister und er werden auf Verwandte im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands verteilt. Rudi kommt - im Alter von 7 Jahren - zu seinem Onkel nach Leipzig, der nach Kriegsende innerhalb weniger Monate vom überzeugten NAZI zum eifrigen Parteigänger der SED mutierte und ihn mit brutaler Härte auf Linie trimmen will. Rudi läuft mehrmals von "zuhause" davon. Nach einer Karriere in mehreren Jugendheimen, meldet sich Rudi zur kasernierten Volkspolizei - quasi als Familienersatz.

Als er merkt, dass er als Grenzpolizist nicht Schmuggler und Kriminelle fassen soll sondern DDR-Bürger, die - genauso wie er - mit dem System hadern und nur das Land verlassen wollen, entfremdet er sich von der Kameradengemeinschaft immer mehr. Er wird Zeuge einer Erschießung Ausreisewilliger und so beschließt er letzlich selbst, in den Westen zu fliehen, was ihm durch sein Insiderwissen auch gelingt. Nach DDR-Recht wird Rudi damit NVA-Deserteur.


Oktober 2013: Zusammen mit meiner Abschlussklasse sitze ich in einem Seminarraum des Mauermuseums am ehemaligen Checkpoint Charlie. Unser Guide



Rudi Thurow wurde 1937 geboren; sein Vater starb 1944, seine Mutter 1945. Die 4 Kinder der Familie wurden unter den Verwandten aufgeteilt; er kam zu einem Onkel in Leipzig, der überzeugter Parteigänger zuerst der Nazis und dann der SED war und ihn mit brutaler Härte auf seine Linie zwingen wollte, was zur Folge hatte, dass Rudi wenigstens 20 Mal von zu Hause ausriss. Deshalb besuchte er neben der achtjährigen Grundschule auch immer wieder verschiedene Jugendheime; durch erneutes Ausreißen konnte er einmal auch die Einweisung in einen Jugendwerkhof verhindern.

In seiner Jugend ging es eindeutig nur ums Überleben. Für die sozialistische Politik hatte er kein Interesse. Wie alle ging er zu den Jungen Pionieren und in die FDJ. Nach einer Lehre als Bergknappe meldete er sich 1954 mit 17 Jahren zur kasernierten Volkspolizei und dann zu den Grenztruppen. Seine Vorstellung von seinen künftigen Aufgaben war, dass er Schieber und Schmuggler jagen würde. In Wirklichkeit kontrollierte er ab 1957 die Reisenden an der Grenze zwischen der Zone und Ost-Berlin. Viele der Menschen, die die Grenze regelmäßig passierten, kannte er mit der Zeit. Wenn aber unbekannte Gesichter auftauchten, die vielleicht noch einen Rucksack oder einen Koffer dabei hatten, musste er sie durchsuchen und verhören. Wenn sie ihre Zeugnisse bei sich trugen oder keinen hinreichenden Grund für ihren beabsichtigten Besuch in Ost-Berlin angeben konnten, wurde ihnen sofort der Ausweis abgenommen. Wenn sie nur verdächtig waren, erhielten sie einen neuen Ausweis mit einer Markierung „Nicht gültig für Berlin“; sie wurden nach Hause zurückgeschickt bei gleichzeitiger Information der regionalen Volkspolizei. Wenn der Verdacht auf den Versuch einer Republikflucht konkreter war, wurden die Delinquenten verhaftet und zur Stasi abtransportiert. Von denen hörte Rudi Thurow nie wieder etwas.

Rudi machte diese Arbeit, weil er nichts anderes kennengelernt hatte. Erst als seine Freundin mit einer Hose und Zigaretten aus West-Berlin zurückkam, verhaftet und mehrfach verhört wurde wegen angeblicher Devisenschieberei, und als ihm der Kontakt zu ihr unter Androhung von Arrest untersagt wurde, kamen ihm Bedenken, ob denn sein Dienst und sein Leben überhaupt so richtig seien. Diese Gedanken führten dazu, dass er beschloss, zu flüchten. Dabei wollte er auch 3 Bürgern der DDR helfen, die ihn im Lauf eines halben Jahres langsam ausgeforscht und dann darum gebeten hatten, sie mitzunehmen auf seinem Weg durch die Mauer.

Nur um zu zeigen, welche Welt das damals war: Einige Tage vor der geplanten Flucht verliebte sich einer der Flüchtlinge in eine Lehrerin, die er gerne mitnehmen wollte. Allerdings trug die ihr Partei-Abzeichen voller Stolz auf der Brust. Da sagten ihm Rudi und die beiden Anderen: „Wenn Du der EIN Wort von unserer Flucht erzählst oder wenn die Flucht nicht gelingt, weil Du zu viel erzählt hast, erschießen wir Dich als Ersten sofort an der Grenze!“ So konnte eine beginnende Liebesgeschichte auch ohne happy end glücklich enden – durch eine geglückte Flucht in die Freiheit.

Bericht Rudi Thurow: Der 13. August und seine Folgen

Ich hatte als Schichtführer den Bahnhof Bernau zwischen der Sowjetzone und Ost-Berlin zu kontrollieren. In den letzten Tagen vor dem 13. August kamen bei mir täglich einige Tausend Menschen durch, die noch versuchten, über Ost-Berlin nach West-Berlin zu entkommen, weitaus mehr als in den Monaten davor. Viele von ihnen ließ ich passieren, aber einige musste ich auch zurückschicken, wenn ihre Fluchtabsicht zu offensichtlich war. Sie beschimpften mich oder baten um Einsicht, dass sie doch nur kurz nach Ost-Berlin fahren wollten. Aber ich musste hart sein, weil auch ich ständig unter Kontrolle meiner Vorgesetzten stand.

In den Nachmittagsstunden des 12. August kamen auch viele Züge durch, die mit Panzern, Artillerie und Kampfgruppen der NVA besetzt waren, und viele, die Tausende von Rollen mit Stacheldraht geladen hatten. Normalerweise fuhren solche Züge zu einem Manöver Richtung Ostsee, jetzt fuhren sie nach Ost-Berlin. Wir glaubten damals, dass sie in Ost-Berlin wohl eine große Militärparade abhalten wollten.

Meine Schicht am 12. August endete um 22 Uhr. Wir fuhren und gingen in unsere Kaserne, reinigten noch die Waffen und legten uns dann schlafen. Etwa um 24 Uhr gingen die Alarmsirenen an: Dreimaliges langes Heulen bedeutete Gefechtsalarm; d.h., die Kompanie hat innerhalb von 3 Minuten auf dem Hof anzutreten, mit einer doppelten Ration an Munition und Verpflegung und mit panzerbrechenden Waffen. So etwas hatten wir alle noch nicht erlebt. Ich dachte, jetzt ist der Krieg ausgebrochen.

Nach unserer Meldung der Gefechtsbereitschaft verlas der Kompaniechef in Begleitung eines Sowjet-Offiziers dann den „Tagesbefehl“ des Verteidigungsministers: Wir sollten den Angriff der faschistischen Nato-Truppen auf die DDR verhindern, damit der Sozialismus und der Friede in Europa gerettet werden könnten. Da fragte ein junger Grenzsoldat ganz laut: „Müssen wir im Ernstfall unsere Schusswaffen gegen unsere Brüder und Schwestern in der Bundesrepublik gebrauchen?“ Die Antwort kam prompt: „Das sind keine Brüder und Schwestern, das sind Imperialisten und Faschisten!“

Dann durften wir schlafen, standen aber am 13. August um 6 Uhr schon wieder an der Grenze. Dort musste ich den oft völlig ahnungslosen Grenzgängern sagen, dass Berlin abgeriegelt sei, dass sie dort nie mehr hinkommen könnten und dass sie sich eine Arbeit in der DDR suchen sollten. Einige musste ich auch mit körperlicher Gewalt von einem Grenzdurchbruch abhalten. Als am Montag die Situation mit den vielen Grenzgängern eskalierte, wurden viele auch auf LKWs der Volkspolizei in die Kiesgrube bei Rüdersdorf gefahren, wo sie zur Disziplinierung einige Tage Zwangsarbeit verrichten mussten. Ich habe auch selbst gesehen, wie Kleingarten-Kolonien an der Grenze zu West-Berlin niedergewalzt wurden, damit sich dort niemand mehr verbergen konnte. Und ich habe erlebt, dass junge Rekruten nicht bereit waren, den Fahneneid auf die DDR abzulegen; von denen habe ich dann nie wieder etwas gehört.

Am 21. Februar 1962 konnte ich im Kugelhagel mit einer Frau und 2 Männern nach Steinstücken, einer West-Berliner Exklave, flüchten, von wo ich dann in einer amerikanischen Uniform im Hubschrauber nach West-Berlin ausgeflogen wurde. Später habe ich lange Zeit in der Girrmann-Gruppe mitgeholfen, Flüchtlinge durch die Mauer in den Westen zu holen. Die Stasi versuchte zwei Mal, mich zu entführen, aber ich hatte beide Male Glück und entkam. Aber erschreckt war ich doch, als ich das alles in meinen Stasi-Akten las. Heute führe ich häufig Besuchergruppen durch Berlin zu den Brennpunkten des Kalten Kriegs.